Der erste Hinweis für die Kontakte
zwischen Rathenau und dem österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig
finden sich in den Archivalien der Nationalbibliothek aus dem Jahre
1907. Rathenau schätzte literarisches und künstlerisches Schaffen und
betätigte sich zuweilen selbst als Schriftsteller. Es ist bekannt, dass
sich beide Persönlichkeiten mehrmals zum Meinungsaustausch über Kunst
und Politik trafen.
Daher ist der Hintergrund für den hier
gezeigten Brief vom 24. Oktober 1914 nicht überraschend: Der
französische Schriftsteller Romain Rolland, Pazifist, Aktivist gegen den
Krieg und aktiver Förderer des Hilfswerks für Kriegsgefangene, hatte
sich einige Tage zuvor an Zweig mit der Idee gewandt, ein Forum
bekannter europäischer Persönlichkeiten aus allen Gebieten einzuberufen,
um vereint gegen den Kriegswahn vorzugehen. Rolland ersuchte Zweig,
weitere Personen aus seinem Umkreis für das Vorhaben zu gewinnen. Zweig
wandte sich unter anderem an Walter Rathenau, doch im Oktober 1914 war
dieser schon nicht mehr an der Erhaltung des Friedens interessiert, wie
aus seinem Brief an Zweig hervorgeht. Rathenau widmete sich völlig
seiner neuen Aufgabe im Deutschen Kriegsministerium und hatte kein
Interesse daran, sich Initiativen zur Beendigung des Krieges
anzuschließen oder über Kriegshandlungen der deutschen Armee in Belgien
(Bombardierung der Stadt Leeuwen) oder in Frankreich (Bombardierung von
Reims) zu diskutieren, die schon in den ersten Kreigsmonaten die Welt
entsetzt hatten.
Die Haltungen von Zweig und Rathenau
veranschaulichen einige der der Möglichkeiten, unter denen herausragende
jüdische Persönlichkeiten in Mitteleuropa wählen konnten: Zweig lehnte
zeitlebens Krieg und Ausdrücke von Nationalismus ab, die jedoch in den
am Ersten Weltkrieg beteiligten Ländern stark verbreitet waren. Er sah
sich als Weltbürger und glaubte innig an das Handlungsvermögen der
europäischen Kultur.
Hingegen war Rathenau ein klassisches
Beispiel für einen deutschen Juden, der versuchte, sich in die
allgemeine Gesellschaft zu integrieren und sogar zur Verstärkung
nationalistischer Haltungen beitrug. Wie sein Vater und wie der Händler
und Sammler James Simon sowie der Reeder Albert Ballin (allesamt
jüdischer Herkunft) war auch Walter Rathenau gut mit Kaiser Wilhelm II.
bekannt. Wie die anderen war auch er nicht-offizieller Berater des
Kaisers. Diese Stellung, wie auch seine politischen Ämter in den frühen
Jahren der Weimarer Republik halfen ihm letztlich nicht weiter. Hier
liegt die Tragödie, die der Figur Rathenaus, wie auch anderen
Persönlichkeiten seiner Zeit innewohnt: In den Augen der deutschen
Rechtsextremen blieben Personen wie Rathenau zunächst immer Juden und
als solche wurden sie für Feinde des deutschen Volkes erachtet.