Heuss hatte verinnerlicht, dass der Aufbau Deutschlands und die Neuafnahme in die Weltgemeinschaft untrennbar vom mutigen Umgang mit der eigenen NS-Vergangenheit abhing. Felix Schinnar schrieb in seinen Erinnerungen, dass Heuss "zum Ausdruck brachte, dass Deutschlands unauslöschliche Schuld in dem Begriff der 'kollektiven Scham' des deutschen Volkes für das Geschehene zu sehen sei." Bei der Einweihung der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Bergern-Belsen im Jahr 1952 sagte Heuss: "Sie werden nie, sie können nie vergessen, was Menschen ihrer Volkszugehörigkeit in diesen schamreichen Jahren geschah. [...] Diese Scham nimmt uns niemand, niemand ab."
Dieses mutige Verhältnis zur Epoche des "Dritten Reiches" schuf bei vielen Vertrauen, auch in Israel, und erleichterte die Annäherung an das Land, dass noch immer mit seinen Verbrechen an der Menschlichkeit in Verbindung gebracht wurde. Heuss' Persönlichkeit erleichterte somit die Anerkennung des aufgeklärten, "anderen Deutschlands", zu dem viele israelische Bürger noch immer bewundernd aufblickten, seine Kultur insgeheim verehrten und die ungeduldig auf ein neues Kapitel im Verhältnis zwischen beiden Völkern warteten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Heuss von der akademischen Elite Israels – die vielfach aus Deutschland stammte – ein warmer Empfang bereitet wurde. Als Intellektueller und kulturvoller Mensch hatte Heuss verstanden, dass eine neue Annäherung zwischen dem jüdischen und dem deutschen Volk nicht nur über Wirtschaftsverträge und diplomatische Zeremonien zu erreichen war. Die Mittel für die Schaffung von Beziehungen zwischen Israel und Deutschland lagen nach seiner Meinung in offenem und ehrlichen Meinungsaustausch von Intellektuellen, Künstlern und Denkern von beiden Seiten. Sein Besuch in Jerusalem war einer der Höhepunkte in einer Reihe von Treffen und wichtigen gegenseitigen Besuchen, bei denen ein reger kulturell-geistiger Meinungsaustausch stattfand.
Martin Buber, Gerschom Scholem, Akiba Ernst Simon und Samuel Hugo Bergmann waren Heuss' Gastgeber an der Hebräischen Universität und sprachen bewegte Begrüßungsworte bei einem Symposion, dass zu Heuss' Ehren auf dem Universitätscampus Givat Ram stattfand und auf dem er selbst über die Gestaltung der Demokratie sprach. "750 Plätze hat das Weiss-Auditorium der Hebräischen Universität," berichtete am folgenden Tag die Zeitung "Ma'ariv", "mehr als 1000 kamen und viele mussten draußen bleiben."
Der Besuch an der Hebräischen Universität erfüllte den 76jährigen Heuss mit großer Befriedigung, vielleicht auch, weil es das einzige Ereignis auf seiner langen Reise durch Israel blieb, bei dem nicht ausdrücklich die Rede auf den Holocaust kam und ihm keine Fragen zu diesem Thema gestellt wurden. In der Zeit, in der die Bürger des Landes auf den Prozessbeginn gegen Adolf Eichmann warteten – nur kurze Zeit, nachdem bekannt wurde, dass er nach Israel gebracht worden war – war das Thema der Holocaust-Verbrechen ein brisanter und viel diskutierter Gesprächsstoff. Es ist jedoch auch nicht zu leugnen, dass bei diesem historischen Besuch viele Israelis lautstark schwere Kritik gegen den freundlichen Empfang äußerten, der dem Vertreter des deutschen Volkes, dem "Volk der Mörder" zuteil wurde.
Heuss, der nach eigenem Bekunden überall ein kleines Notizbuch mit sich führte, in das er zeichnete um so seine Eindrücke wiederzugeben, veröffentlichte kurze Zeit nach seinem Besuch in Israel ein kleines Buch mit seinen in Israel gehaltenen Reden, in dem auch die an der Hebräischen Universität zu seinen Ehren gehaltenen Ansprachen enthalten sind. In diesem Buch wurden auch einige seiner anmutigen Pinselzeichnungen von israelischen Landschaften veröffentlicht, die ihn beeindruckt hatten. Im August 1960, nur zwei Monate nach seiner Rückkehr nach Deutschland, schickte er Martin Buber ein Exemplar dieses Buches mit einer persönlichen Widmung. Während seines Aufenthaltes in Jerusalem hatte Heuss zu Buber ein sehr enges Verhältnis entwickelt und diesen auch in dessen Haus in der Chovevei-Zion-Straße besucht.
Das Zusammentreffen mit den führenden Köpfen der Hebräischen Universität führte auch zu einem Besuch der Nationalbibliothek, die damals noch eine Universitätseinrichtung war. Die "National- und Universitätsbibliothek" – so ihr damaliger Name – stand vor dem historischen Umzug von ihrem provisorischen Domizil im Terra-Sancta-Gebäude in ihr neues Gebäude auf dem Campus Givat Ram. Auf den Bildern, die diesen Besuch dokumentieren, sieht man Heuss, mit einer Zigarre im Mund, wie er mit Interesse einige alte aschkenaissche Gebetbücher betrachtet, die ihm vom damaligen Bibliotheksdirektor, Dr. Curt David Wormann und von Dr. Issachar Yoel gezeigt wurden. Beide stammten ursprünglich aus Deutschland. Heuss kannte Wormann noch aus dessen Zeit als Leiter der öffentlichen Bibliotheken in Berlin-Kreuzberg in den Tagen der Weimarer Republik.
Dieser wichtige Besuch, trotzdem er nach der Beendigung von Heuss' offizieller Amtszeit als Bundespräsident stattfand, war nach den Worten von Felix Schinnar ein wichtiges Glied bei der Stärkung des entscheidenden Anteils der geistigen, wissenschaftlichen und kulturellen Seiten bei der Ausbildung der Beziehungen zwischen beiden Völkern, denn diese Felder besitzen ewige Werte.
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Prof. Heuss spricht im Weiss-Auditorium. Links neben ihm Martin Buber
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Im Büro des Bibliotheksdirektors Dr. Curt David Wormann (in der Mitte): sein Stellvertreter, Dr. Issachar Yoel, zeigt die Handschrift eines aschkenasischen Gebetbuches |
Persönliche Widmung von Theodor Heuss für Martin Buber in seinem Buch über den Israel-Besuchl
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Fotografien: Dr. Kurt Meirovich (Photo Emca), Quelle: NLI, Archivabteilung, ARC. 4* 793 06 121Geschrieben von: Gil Weissblei